Freitag, 14. Juli 2017

Stumm. Meine Stimme, Mimi und ich.

Die Stimmlippen, auch: Stimmfalten, sind paarige schwingungsfähige Strukturen im Kehlkopf. Sie sind ein wesentlicher Teil des stimmbildenden Apparates des Kehlkopfes, bestehend aus der von Epithel überzogenen Stimmfalte, dem eigentlichen Stimmband, dem Musculus vocalis und den Aryknorpeln jeweils beider Seiten. Die Stimmlippen werden beidseits bei der Stimmgebung durch Anblasen aus dem Brustkorb in Schwingungen versetzt und bilden so den Primärschall der Stimme.


Meine Mutter hat mir erzählt, dass wir gemeinsam, als ich zwei Jahre alt war, meine zauberhafte Nenn-Tante Sloma in einem Westberliner Delikatessladen in dem sie damals arbeitete, besuchen gingen. 1960, also noch vor dem Mauerbau, man bin ich alt!  
Eine laute, dunkle, heisere Stimme brüllte: "Loma!", die Kunden wendeten sich der Quelle des wüsten Schreis zu und ihr Blick fiel auf mich, klein, blond, süß.

Am Telefon wurde ich später des öfteren als Herr Schall identifiziert und einige Regisseure drängten mich, meine Töne eine Oktave nach oben zu quetschen. Blond, Unschuld, Opfer - hohe Stimme. WTF?

Mein Vater spielte über 500 Mal den Arturo Ui und brüllte sich vor den Vorstellungen fachgerecht ein. Ich schrie dilettantisch mit und bekam die ersten Knötchen auf den Stimmbändern. Die gingen wieder weg, kamen nach zehn Jahre wieder & wurden operiert. Ohne Narkose, nur Vereisungsspray in den Hals, selbst die Zunge festhalten und Professor Doktor Wendler, ein ganz wunderbarer Arzt, schnitt mit einer ganz kleinen Schere, die an der Spitze eines langen Metallinstrumentes angebracht war, das kleine Gewächs weg. Ein Test-Ton direkt danach - war noch Zukunft, oder nicht mehr? Dann sechs Wochen Schweigen. Danach war alles, was mich umgab mit geschriebenen Worten vollgeschmiert. Selbst die Raufasertapete. 

Am Rande: versucht mal ohne zu sprechen, ein Buch zu kaufen. Der Verkäufer antwortet sehr laut, sehr langsam und sehr deutlich. Keine Stimme, kein Gehör, kein Hirn?

Jahre später verfiel ich auf den Plan, entgegen meiner eigenen festen Erwartung, nun doch Schauspielerin werden zu wollen. Der Stimmtest amüsierte meinen Phoneater, wiederum Professor Dr. Wendler, etwas zu sehr.
Aber ich war fleißig, Sprecherziehung, Atemübungen, Ausdauertraining. Herr Aderholt, der, mit dem französischen Regisseur, der ein tschechisches Stück mit einer Eifersuchtsszene inszeniert, war mein Sprecherzieher, für mich der ganz falsche. Er sagte, ich solle mich auf einen Tisch legen und meine Mauern fallen lassen. Ich bin anstattdessen mit starken Halsschmerzen nach Hause gegangen. 
Und fand dann, durch den Rat einer Freundin, Mimi. 
Mimi, deren Nachname mir leider ums Verrecken nicht einfallen will. Sie war einst Chorsängerin an der Komischen Oper und hatte viel mit Felsenstein gearbeitet, den sie sehr bewunderte. Sie liebte Stimmen, konnte verdruckste, gestemmte, verkrampfte Töne aber körperlich nicht ertragen, also nahm sie ihre Liebe und machte Deine/meine Stimme ihrer würdig. 
Erinnerungen: unzählige Zeitungsausschnitte mit anatomischen Darstellungen von Kehlköpfen, eine winzige Küche, ihre Passion, ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe, so dass ich oft fast rückwärts aus dem Küchenfenster hing. 
Aber meine empfindliches/empfindsames Organ wuchs und gedieh und wurde stärker, widerstandsfähiger. Und hat seitdem viel geleistet, viel mitgemacht und tapfer durchgehalten, trotz meiner dummen Raucherei und meiner Neigung zur Asozialität. 
Im Allgemeinen ähnelt mein physisches Naturell dem eines Ackergaules, stabil, ausdauernd und kräftig. Wenn ich allerdings Stress habe, oder Kummer, dann sind es immer meine Stimmlippen, die zuerst reagieren. Meine Schwachstelle und meine Sensibilität vereint.
Ich mag meine Stimme, sie ist zweistimmig, dunkel mit hellen Untertönen. Nicht kratzig oder derb, eher gut gebraucht. Zwar nicht herrlich verderbt, wie die von Sophie Rois, aber auch nicht harmlos. Kein Piepsstimmchen, auch nicht wunderbar süffig, nicht schön im klassischen Sinn, keine klassisch zarte Mädchenstimme, aber mittlerweile die einer erwachsenen Frau. Sie ist halt meine Stimme, die, mit der ich streiten kann und zustimmen, laut denken und leise vermuten. Sie läßt mich teilnehmen am Leben, aktiv und widerborstig und ganz ich selbst.
Apropos: ich liebe Gesang, kann aber leider nicht gut singen, auch weil meine Physis hohe Töne, obwohl als Sopran eingestuft, nur widerwillig produziert. Schade, schade. 
Vor 15 Jahren dann nochmal Ödeme, nachdem ich in einer neuen Stelle am Volkstheater in Rostock ein Jahr durchgearbeitet hatte und nachlässig geworden war, noch eine Op, diesmal unter Vollnarkose,
Und jetzt, 2017, mitten im Sommer mein persönlicher Supergau. Ein Virusinfekt. Geschlagene vier Wochen lang! Für mich, die ich nie krank bin, eine völlig unbekannte Katastrophe. Husten, noch mehr Husten und dann, als ich grad dachte, es geht wieder, schlich sich der Scheißinfekt auf meine Stimmbänder und legte mich still.
Allein sein und stumm. Wie merkwürdig. Man lebt im eigenen Kopf und hat Angst, dass man da für immer bleiben muß, allein im eigenen Kopf. Kein guter Ort. Ich bin gern mit Anderen, brauche Widerspruch, ich will, muß mich mitteilen, auseinandrsetzen. 
Heute Abend habe ich sie, meine Stimme, nach acht Tagen völliger Stilllegung wieder gehört, noch etwas angerauht, noch nicht in voller Kraft, aber wiedererkennbar, hörbar, meine Stimme.

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