Samstag, 5. April 2014

Das Kalte Herz in Stuttgart - Armin Petras


1992 oder 93 fuhr ich mit einem Freund nach Franfurt an der Oder, um dort die Inszenierung eines jungen Regisseurs anzusehen, den ich Jahre zuvor als elfjährigen schmalen, scheuen, blonden Jungen im adretten Wohnzimmer einer Schulfreundin kennengelernt hatte. Es wurde für ein ganz wunderbarer Theaterabend. Krass und witzig und in großartiger Sympathie mit allen Figuren, Kleists "Käthchen von Heilbronn" auf der kleineren Bühne des, damals noch existierenden, Franfurter Kleist-Theaters. Ich erinnere mich deutlich an Rahel Ohm als Kunigunde in verzweifelter, erfolgloser, manischer Diät zur perfekten Schönheit, unter ständiger Bedrohung durch die Verführungskraft gesalzener Erdnüsse. Hier wurde Kleist ganz und gar Ernst genommen und in kräftiger, seltsamer Umarmung in die Jetztzeit geleitet. 
Ich habe von da an, wann immer ich konnte, versucht seine Arbeiten zu sehen, wo auch immer sie auftauchten und dieser Regisseur ist viel herumgekommen in Deutschlands Theatern. Manches war nahezu perfekt, manches schien halbfertig, als hätte ihn nur ein Strang des Stückes interessiert und alles andere wurde nur abgearbeitet, oder bei der gleichzeitigen Realisierung von drei Stücken an verschiedenen Theatern war einfach nicht genug Zeit alles zu Ende zu denken.
Und immer wieder hat er mich in meiner Mitte erwischt. 

Leipzig - Tellheim in dreifacher Ausfertigung, drei Generationen von geschassten NVA- Offizieren, die sich in der neuen Ordnung nicht zurecht finden und ihr mit erlernten Mitteln entgegentreten. Westgelddrucken im Eigenverlag.

Kassel - Noch einmal Rahel Ohm, diesmal als Ophelia, die von einer glücklichen Zukunft mit Hamlet in Wittenberg träumt, in der sie Schauspiel studieren und Saxophon spielen wird, und die von den problembeladenen Männern desinteressiert zurückgelassen wird.

Berlin - Michael Klammers Baumwollfeldtanz in den "Früchten des Zorns" am Maxim Gorki Theater. 

Und, und, und.
Ich meine Armin Petras. 

Rahel Ohm war auch heute Abend in Stuttgart dabei, zauberhaft und doch eigenartig vernachlässigt als Mutter des Peter Munk. Was genau habe ich heute Abend gesehen? Einen Versuch zwischen Tanztheater, Musical, ernsthafter Volkskunst und den Möglichkeiten des Sprechtheaters, sich über den Schrecken der GIER zu verständigen. Was in uns macht uns gierig, rücksichtslos, kaltherzig? Wo wurzelt diese rasende Lust auf das ZUVIEL? 
Kein vollständiger Wurf, aber es wurde weit geworfen. 
Vielleicht kann ich es so formulieren: Selbst wenn ich mäkele oder unzufrieden bleibe, habe ich bei Petras doch nie das Gefühl, verscheissert oder übertölpelt worden zu sein. Ich wurde als Zuschauer Ernst genommen und habe dadurch die Freiheit nicht einverstanden zu sein.


Foto: Michael Steinert

Wilhelm Hauff

Aus dem Märchen-Almanach auf das Jahr 1826

"In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von Anfang an bis heute die Königin Phantasie. ... Einst kam Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hier und da wollte ihr bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.
»Was hast du, liebes Märchen«, sprach die Königin zu ihr, »du bist seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner Mutter nicht anvertrauen, was dir fehlt?«
»Ach, liebe Mutter«, antwortete Märchen, »ich hätte gewiß nicht so lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der deinige ist.«
»Sprich immer, meine Tochter«, bat die schöne Königin, »der Gram ist ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn leicht aus dem Wege.«
»Du willst es«, antwortete Märchen, »so höre: Du weißt, wie gerne ich mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vor seiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn ich weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!«
»Armes Märchen!« sprach die Königin und streichelte ihr die Wange, die von einer Träne feucht war, »aber du bildest dir vielleicht dies alles nur ein?«
»Glaube mir, ich fühle es nur zu gut«, entgegnete Märchen, »sie lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalte Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich doch immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir altklug den Rücken zu."



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