Freitag, 22. November 2013

Theater hat auch einen Mangel an Zynismus (manchmal)


Letztens auf einer Probe in Bremen:
Eine Schauspielerin probiert König Heinrich den Fünften, das Stück über das ultimative manipulative Macho-Arschloch. Großer König, größerer Krieger, bis heute strahlendes Heldenbild des britischen Nationalstolzes. Shakespeare läßt ihn uns in Heinrich IV. kennenlernen, als jungen unzufriedenen Mann mit Vaterhass, der dann, in Heinrich V., nach gewonnener Schlacht um Agincourt, um die Tochter des besiegten französischen Königs wirbt.
"Wenn du einen Burschen von solcher Gemütsart lieben kannst, wenn du so einen möchtest, dann nimmst mich; und nimmst mich, nimmst einen Soldaten; und nimmst einen Soldaten, nimmst einen König."
oder

"Das ist nicht möglich, dass du den Feind von Frankreich liebst, Cathi-Kätchen: aber indem Sie mich lieben, sollten Sie den Freund von Frankreich lieben; denn ich liebe Frankreich so sehr, dass ich kein einziges Dorf davon hergeben will; ich will das alles ganz für mich"
oder
"Sollten denn nicht wir beide, du und ich, mit vereinten Kräften, einen Jungen zustande bringen, halb französisch, halb englisch, der mal nach Konstantinopel geht und den Türken am Bart packt? Sollten wir nicht?" 

Der triumphierende König führt die Besiegte seinen erschöpften Leuten vor, amüsiert seine Truppen mit bösartigen Bonmots, der Super-Mann unter soldatischen Männern. Comedy, Kabarett für die Truppen.
Sehr witzig und sehr ekelhaft. Die Schauspielerin machte das ganz wunderbar, beendete die Szene, schüttelte sich und sagte: "Igitt! Widerlich! Fühlt sich scheußlich an. Aber es stimmt wohl, da müssen wir es wohl so machen."

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Heute auf einer Probe in Rostock:
Zehn Studenten, des zweiten Studienjahrs, lesen Heiner Müller. Für die meisten ist es das erste Mal. "Mauser" ist ein harter Brocken, geschrieben als radikale und verzweifelte Antwort auf Brechts "Maßnahme", ja, auf die Verkrüppelung jedweder Utopie, den unauslöschbaren Makel des 20. Jahrhunderts, zwingt der Text Unerträgliches in stahlharte und fast unerträglich schöne Sprache. 

„Wozu das Töten und wozu das Sterben
Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist
Die zu Befreienden der Preis der Freiheit.“

Wird das Töten aufhören, wenn die Revolution gesiegt hat.
Wird die Revolution siegen. 

Wie lange noch“

Geboren zwischen 1986 und 1994, ist der kalte Krieg der Systeme für sie, die wir die Jugend nennen, nur mehr ein vager Mythos. Stalin? Arbeitslager? Säuberungen? (Was für ein Begriff!) Und sie lesen, stocken, lesen wieder, stammeln, "Oh, mein Gott", grinsen, zittern, ächzen (der Text ist kompliziert), staunen, erschrecken, begreifen. Empörung, Erschrecken und Begeisterung über solche Konsequenz im Durchdenken eines Gedankens halten sich die Waage. Was für ein harter Ritt! Sie machen eine Erfahrung. Sie erleben etwas mit all ihren Sinnen. Theater kann ohne Zustimmung auskommen. Es kann uns erregt, bestürzt und fragend entlassen. 
Ich habe mich heute sehr verantwortlich gefühlt. 


Edvard Munch Der Schrei 1910
© The Munch Museum/The Munch Ellingsen Group/VBK

1 Kommentar:

  1. Anne Mechling-Stier schrieb:
    Und ich bin froh über jeden, der noch bereit ist, sich verantwortlich zu fühlen! Ohne Zynismus...

    Mireille Adieu
    in der schauspielschule gabs kleinere szenenstudien, 2. sem., irgendwas von mrozek. die studenten hatten das vorspiel gründlich verkackt und waren sauer. im gespräch darüber stellte ich fest, dass der dozent auch nicht ein wort über mrozek selbst verloren hatte und vor allem nichts über die geschichtlichen zusammenhänge. sie wussten nichts über stalinismus, aber es war ihnen auch nicht klargeworden, dass sie sich da mit absurdem theater befasst hatten. etc. sie wiesen es auch von sich, als ich ihnen das versuchte, ein bisschen zu erklären, sichtlich uninteressiert waren sie anfänglich. ich kam mir schon echt vor wie ne oma, die erst mal erklären muss, dass man früher kein telefon hatte, richtig dämlich. ich verstehe bis heute nicht, warum der dozent so eine großartige chance, geschichte und kunst zu vermitteln und weitertragen zu lassen, einfach verpasst hat.

    Skuld Norne
    Eine kleine Bemerkung- nicht zum Zynismus- aber zum "Schrei". Wir mussten das Bild an der EOS in Farbe umsetzen und seitdem habe ich es nie aus meinem Gedächtnis verbannen können.

    Steffi Friedemann
    dürfen die Jugendlichen heute immer noch umsetzen bzw neu interpretieren jedenfalls auf dem Gym meiner Tochter

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