Freitag, 1. November 2013

Theater hat auch Autisten


Heute im Theater am Goetheplatz in Bremen Die Räuber von Friedrich Schiller.
Es sei hiermit im Vornherein zugegeben, dass ich, wie mancher andere auch, dem Abend nicht bis zum Ende beigewohnt habe.

Leere Bühne, ein nackter, gut aussehender Mann tritt auf und beklagt seine Häßlichkeit. Ah, es ist Franz Mohr. Wunderbar schnell und klar gesprochen, rast er durch Monologe und die erste Szene mit Vater Mohr. Die Spielweise ist klassisch, verstellte Stimme für den Vater, wiederholende Gesten, ironisches Denken, wenig Humor, nur ist er halt nackt. 
Vielleicht weil bei Schiller der Satz "Nun sollt ihr den nackten Franz sehen und euch entsetzen!" fällt? 

Amalia tritt auf, sie ist offensichtlich nicht glücklich, träumt sich in Musik fort, wird durch Franz, der nunmehr eine Trainingshose in dezentem hellgrau trägt, gestört und öffnet geschwind, zum Zeichen ihrer Abneigung, ihre blaue Sportjacke, unter der sie eine Bluse mit nervösem Muster und roter Bordüre zum blauen bodenlangen Rock trägt. 
Sie wird in jeder Szene eine andere Perücke und ein anderes, unkleidsames Outfit tragen. Warum? Sucht sie nach ihrer Rolle? Hat multiple Persönlichkeiten? Alle Frauen stecken in einer Frau?

Man waren die Kostüme häßlich! Ich überlege ernsthaft eine Petition, zwecks Durchsetzung eines allgemeinen Verbotes von Sportkleidung auf Bühnen deutscher Stadttheater, aufzusetzen. So viele gut gebaute Männer in solch, aussagefreien, sackartigen Schlabberhosen. Die theatrale Jogginghose ist heute, was der Militärmantel in den 90ern und die Kunstleder-Amöbenmuster-Perlon-Mode um die Jahrtausendwende war. Verhäßlichung um ihrer selbst willen ist noch keine Kunstaussage.

Auftritt des Bastards Hermann.  
Die im halbleeren Saal anwesenden Gymnasiasten verlieren jetzt wahrscheinlich endgültig den Faden. 
Hermann trägt eine mittelblaue Kordhose und kein Hemd, aber einen runden Bauch. Er darf sich nicht bewegen und nicht gestikulieren und muß ganz gerade und ohne Erregung sprechen, wohl damit er sich von den Mitgliedern der Familie Mohr, die alle eine Neigung zur Hysterie haben, absetzt.

Vater Mohr erzählt gern ausgiebig über Szenen aus Hollywood-Filmen. Amalia versucht, ein wirklich feiner Einfall, seine Hand zum Zittern zu zwingen, er soll so alt sein, wie sie ihn braucht. 
Karl kommt spät, und muß alle Räuber mitspielen und, durchgehend und zunehmend, sehr leidenschaftlich-verzweifelt-intensiv-außer sich sein.
Immer wieder und über lange Strecken Dröhnen unter dem Text, oder ist es Musik?

Die Schauspieler sind nahezu ausnahmelos erstklassig, aber sie werden in einen situationsfreien Raum ohne historische oder soziale Ortung geworfen und sollen ausschließlich durch Zuständlichkeiten, emotionale Druckkraft und allgemeine Erregtheit das erzählen, was sicher als Film im Kopf des Regisseurs von großartiger Tiefe und Bedeutsamkeit ist.
Das Publikum, obwohl ständig direkt von der Rampe aus angesprochen, dient nur als Objekt der Belehrung, nicht als Gesprächspartner. Ihr versteht nicht was wir tun, und das ist euer Problem, frei nach der Fishermen's Friend Werbung:
Sind wir zu stark, bist Du zu schwach!  

Das selbstreferentielle, geradezu manische Interesse der theaterschaffenden Mittelschicht, zu der ich übrigens auch gehöre, an den eigenen, ins Gigantische vergrößerten Nöten läßt hier scheinbar keinen Austausch zwischen Oben und Unten mehr zu.

Vor einem Jahr im Maxim-Gorki-Theater Die Räuber von Antú Romero Nunes inszeniert. Was für eine andere Theaterwelt.


Das abschließende Disney Schluß-Tableau habe ich verpasst.


2 Kommentare:

  1. »Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Das ist ein Wandel, der mich selbst befremdet. Was ist geschehen? Wann ist es geschehen? Habe ich mich verändert? Oder das Theater? Liebe ich es nicht mehr, oder liebe ich es zu sehr?«
    Roland Barthes

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  2. Ich habe einen Verdacht, was geschehen ist:

    "Regietheater. – Jahrelang hat man die Klassiker interpretiert. Jetzt kommt es darauf an, sie zu verändern."
    (Prof. Dr. phil. habil. Rainer Kohlmayer (*1940), Professor für Interkulturelle Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

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